Mein Vater hat Krebs im Endstadium, darf ich ihm gegenüber noch kritisch/sauer sein?

Warnung, langer Text. Aber es muss jetzt halt mal raus. Danke an alle, die sich das antun.

Wie der Titel schon sagt, mein Vater hat unheilbaren Krebs und wird laut Ärzten wohl innerhalb der nächsten 6 Monate sterben. Meine Mutter hat ihn jetzt wieder nach Hause geholt und möchte versuchen, die palliative Versorgung zuhause zu bewältigen (natürlich mit Hilfe von Palliativnetzwerk, Palliativpflege, Palliativarzt usw.) Zeitgleich hat sie aber auch eine demenzkranke Mutter, die auf gar keinen Fall ins Heim möchte - zum Glück noch nicht so weit fortgeschritten, dass man sie nicht mehr allein lassen kann. Aber dazu wird es irgendwann kommen. Geschwister zur Unterstützung hat meine Mama keine mehr (ihr Bruder ist mit Mitte 40 an Krebs gestorben, ihr Vater als sie 20 war).

Mein Vater hat noch eine Schwester, die aber selbst krebskrank ist und deshalb nicht helfen kann. Sonst gibt es noch mich und meine kleine Schwester.

Das ist erstmal die momentane Situation. Ich denke nachvollziehbar, dass meine Schwester (28) und ich (33) da wirklich das Gefühl haben, wir müssen irgendwie helfen. Wir haben beide momentan keinen Partnerin, ich habe 32 Stunden Arbeit die Woche (habe wegen der Situation schon vor Jahren die Arbeitszeit reduziert), meine Schwester arbeitet Vollzeit und befristet in einem Start Up, steht also ständig unter Leistungsdruck. Jon aufgeben geht bei beiden aus finanziellen Gründen offensichtlich nicht.

Nun versuche ich, so gut es geht zu helfen. Fahre mehrmals monatlich am Wochenende vorbei, helfe bei dem, was eben so anfällt. Habe dadurch selbst kaum noch ein Sozialleben. Das geht seit vier Jahren bereits so (seit der Diagnose meines Vaters). Die neue Situation (post-Krebstherapie) ist emotional und organisatorisch ohnehin schon zusätzlich herausfordernd. Aber wenn es nur das wäre, würden wir das zusammen irgendwie schaffen.

Das Hauptproblem ist das Verhalten meines Vaters. Er war schon immer kein Mensch der vielen Worte. Seit meine Schwester und ich Teenager sind, zeigt er seine Liebe auch nicht mehr, nimmt quasi Reißaus, wenn wir ihn in den Arm nehmen wollen. Ich habe ihn schon damals einmal gefragt, warum er das macht. Er meinte, wir seien ja jetzt auch junge Frauen, und wie das denn aussehen würde. Tja, was soll man dazu als Tochter dann sagen außer "Du bist mein Vater, du darfst mich in den Arm nehmen!" Hat leider nichts an seinem Verhalten geändert. Wir hatten materiell alles, was wir brauchen und er hat uns auch immer bei allem geholfen. Aber der liebevolle Umgang, den gab es irgendwann nicht mehr.

Außerdem war er schon immer nicht sehr kritikfähig aus meiner Sicht. Ich war als Teenagerin auch echt nicht einfach (wer war das schon, aber ja, es ist mir heute manchmal rückblickend peinlich). Hab jetzt nie schlechte Noten gehabt, bin nicht in die Drogenszene abgerutscht oder sonst irgendwas dramatisches. Aber ich bin halt echt zickig gewesen und manchmal auch respektlos.

Dass er sich das damals nicht gefallen lassen wollte, verstehe ich. Aber ich bin heute glaube ich sehr differenziert und kann genau und sachlich ausdrücken, wenn mich etwas stört, aber auch sagen, wenn jemand etwas gut macht usw.

Nun ist mein Vater schon immer ein schwarz-weiß-Denker gewesen und es gab für ihn auch immer mehr schwarz als weiß. Wenn man ihn also kritisiert, wegen einer Sache, die er vielleicht mal nicht so ganz richtig gemacht hat, dann kommen immer gleich Sprüche wie "Ja ich bin ja sowieso an allem Schuld und scheiße, ist klar." oder heutzutage dann eben "Ihr seid mich ja eh bald los." Er kritisiert uns zudem für die kleinsten Kleinigkeiten. Dazu weiter unten mehr, weil es mit der akuten Situation etwas zu tun hat. Wenn ich dann irgendwann sauer werde und weine oder wir im Streit auseinander gehen, dann kommt kurze Zeit später eine WhatsApp Nachricht, dass es ihm ja so leid tut und er uns ja so lieb hat. Das Problem: Das nächste Mal verhält er sich wieder genauso. Rinse and repeat.

Natürlich versuche ich in der momentanen Situation zu verstehen, dass er Angst hat und viel mit sich selbst beschäftigt ist. Er kann auch nicht mehr alles und deshalb versuchen wir ihm viel abzunehmen. Ich frage auch regelmäßig, wenn ich da bin, "soll ich x oder y für dich machen". Manchmal nimmt er es an, manchmal nicht. Das ist ja auch ok so. Was aber nicht ok ist: Wenn er etwas nicht kann, obwohl er dachte, dass er es kann, dann fragt er nicht einfach, ob wir ihm helfen können. Beispiel: Vor ein paar Tagen wollte er sich ein Brot schmieren, merkte aber, dass es doch nicht geht. Anstatt uns zu fragen, ob wir ihm helfen können, hat er meine Mama (die sich mit mir unterhalten hat in dem Moment) angeschnauzt, sie könnte doch wohl sehen, dass er versuchen würde, sich ein Brot zu schmieren, dann hätte sie ja mal Hilfe anbieten können. Nun ist es aber so, dass er es den Tag davor selbst konnte und auch selbst machen wollte. Woher sollte meine Mutter jetzt wissen, dass er plötzlich Hilfe haben möchte?

Gestern dann hat er versehentlich Kaffee verschüttet. Über das Notizbuch meiner Mama. Nicht schlimm. Passiert. Nachdem er mich dann schon angemeckert hat, ich soll das schnell trocken machen (ich war ohnehin schon auf dem Weg zum Zewa, aber ich kann nicht fliegen), fing er dann an über meine Mama und ihre Zettelwirtschaft zu schimpfen. Ich hab ihm dann gesagt, dass nur überall so viel Papier rum liegt, weil das alles Bürokratie wegen seiner Situation ist, und dass es ja auch nicht schlimm ist, dass er Kaffee verschüttet hat, aber er das nicht an Mama auslassen soll.

Während ich dann also so am Kaffee aufwischen war, hat er seinen Kaffee genommen um in das Wohnzimmer zu gehen. Später meckert er, dass ich seine Wasserflasche noch nicht die Treppe hoch getragen habe und als ich mich entschuldige, dass ich das vergessen habe (weil zwischenzeitlich 2 Pflegekräfte da waren), ist es dann eskaliert, weil meine Mama ihn gefragt hat, ob er nicht verstehen kann, dass ich mich dann schlecht fühle. Später hab ich erfahren, dass er mich dann noch schlecht geredet hat bei meiner Mama weil ich ihm ja nicht angeboten hatte, den Kaffee ins Wohnzimmer zu tragen (1. Ich war mir wischen beschäftigt, 2. Er hätte ja fragen können).

Das hat mir dann gereicht und ich bin sauer nach Hause in meine Wohnung gefahren. Natürlich kam nach 30 Minuten wieder eine WhatsApp Nachricht, dass es ihm ja so leid täte und alles seine Schuld wäre. Ich wollte ihm eigentlich nicht darauf antworten, war noch sauer. Heute morgen hat er mich dann zugespamt, ich solle doch antworten, es täte ihm leid, er wäre ja kein schlechter Vater gewesen, er will doch nur, dass alles wieder so wird wie früher. Ich habe ihm gesagt, dass entschuldigen nicht mehr reicht und er mir erst beweisen muss, dass es nicht wieder nur eine hohle Phrase ist. Nach einigem hin und her meinte ich, dass ich das Gefühl habe, dass er nur das schlechte in seinem Leben sieht gerade und gar nicht dankbar ist, dass er uns hat. Er meinte dann, dass ich doch wissen sollte, dass er für uns dankbar ist, schließlich hat er im Leben ja so viel für uns getan.

Da ist mir dann der Kragen geplatzt. Weil er echt erwartet, dass sein Verhalten für uns ok ist (sein muss?), weil er sich um uns gekümmert hat? Seine Kinder? Die er haben wollte? Wir hatten da doch kein Mitspracherecht. Ich hab ihm das dann auch so gesagt, und außerdem, dass ich es traurig fände, wenn er uns nur zur Altersversorgung bekommen hat, müsste er echt mal über seine Lebensentscheidungen nachdenken. Hab aber auch gesagt, dass ich nicht sagen will, dass das so ist, das weiß er nur selbst.

Hab das Gespräch dann beendet indem ich gesagt habe, dass wir das heute nicht mehr klären und er in den kommenden Wochen und Monaten ja Zeit haben wird, zu beweisen, dass seine Entschuldigung ernst gemeint ist. Er hat das akzeptiert.

Nun hab ich aber ein schlechtes Gewissen, weil der Mann stirbt bald. Darf ich sowas hartes dann noch sagen? Auf der anderen Seite geht das jetzt schon mindestens 5 Jahre so: Er verhält sich scheiße, entschuldigt sich im whatsapp, macht die gleiche Kacke 2 Wochen später wieder. Ich kann das halt alles nicht mehr und hab das nicht verdient. Meine Mutter und Schwester auch nicht. Hab gerade 2 Stunden im Bett gelegen, die Wand angestarrt und geweint, weil ich nicht mehr weiß, was richtig ist. Was meint ihr?

EDIT: Danke erstmal für die Antworten. Das alleine hilft schon. Ich werde diese mal über das Wochenende in Ruhe reflektieren, hier und da auch eine Antwort direkt geben, wenn ich konkret etwas zu sagen habe. Auf den ersten Blick merke ich, dass die Standpunkte und Meinungen da doch sehr auseinander gehen und es die zwei Seiten gibt, die auch in mir kämpfen. Wahrscheinlich gibt es da einfach keine allgemeingültige "richtige" Lösung. Aber ich werde einfach mal in mich gehen und schauen, was für mich bzw. uns die richtige ist. Danke!!!

EDIT2: Nochmal danke für die Antworten! Alle waren auf ihre Art für mich hilfreich. Ich hab den Thread ja nicht aufgemacht, damit alle mich mit Samthandschuhen anpacken und mir nur die Dinge sagen, die ich hören will. Zumindest ist mir beim Lesen klar geworden, welche Punkte meinen persönlichen Überzeugungen entsprechen und welche eben nicht. Und wo ich vielleicht auch manchmal etwas hart bin (hab einen starken Gerechtigkeitssinn, schon immer gehabt, wenn ich etwas als ungerecht empfinde, kann ich es schwer loslassen, selbst, wenn es für die Ungerechtigkeit Gründe gibt). Aus vielen Beiträgen habe ich gute Anregungen mitgenommen, um mir "meinen" Weg zu planen.

Für mich habe ich jetzt folgendes entschieden: Ich glaube, ich möchte im Rahmen meiner Kapazitäten für ihn da sein. Ich würd es mir nie verzeihen, ihn komplett im Stich zu lassen. Dafür liebe ich ihn zu sehr.

Und ich möchte ihm aber auch sagen, wenn ich etwas nicht gut finde. Aber das muss dann kein großes Familiendrama nach sich ziehen. Ich sage es, und dann ist es gut und es geht alles wie gewohnt weiter. Ich möchte es nur gesagt haben - auf konstruktive Weise natürlich. Ob und wenn ja, was er dann damit macht, ist mir gleich. Also wirklich.Wenn er das jetzt nicht mehr kann oder möchte, bin ich ihm nicht böse. Aber ich möchte ihn an meiner Gefühlswelt teilhaben lassen. Nur so gebe ich ihm die Chance, es anzusprechen oder etwas zu ändern, wenn er möchte und kann. Wenn ich nicht kommuniziere, kann er nicht darauf eingehen, selbst wenn er es möchte. Und ich glaube, auch dass ja, ich will es einfach nicht ungesagt lassen. Ich sage ihm auch regelmäßig, wie sehr ich ihn lieb habe. Es ist jetzt echt nicht so, dass ich ihn nur kritisiere, falls das so rüber gekommen sein sollte.

Nur damit das klappt, muss er damit genauso einverstanden sein. Sonst hat er ggf. das Gefühl, ich möchte diskutieren, wenn ich etwas anspreche. Ich habe ihm dazu schon eine Nachricht geschrieben und gesagt, dass es mir wichtig ist, dass er weiß, dass ich ihn weiter lieb habe, und auch bei ihm sein möchte und werde, aber dass ich nicht so tun möchte, als würden seine Ausbrüche keine Wunden bei mir hinterlassen. Das heißt aber nicht, dass er etwas ändern muss und ich erwarte das auch nicht von ihm. Das habe ich so gesagt.

Er meinte daraufhin, dass wir uns da persönlich drüber unterhalten sollten, weil er sonst im WhatsApp sich wieder so ausdrückt, dass ich es falsch verstehen kann.

Und da stimme ich zu und ich denke das werden wir jetzt machen. Er meinte noch "nichts kann mich von euch trennen" und das finde ich schön und ich habe Hoffnung, dass wir uns aussprechen können und es uns danach beiden besser geht. Ich glaube daran, weil ich an meinen Vater auch glaube. Er hat seine Macken, aber er ist eigentlich ein unglaublich gutherziger Mensch, der keiner Fliege etwas zu leide tun kann.

Ich denke in dem Gespräch werde ich auch direkt mal mit meinem zweiten Vorsatz anfangen: Ich werde ihn direkt fragen, wie er sich fühlt. Von selbst öffnet er sich dahingehend nicht, vielleicht hilft es, wenn ich Interesse zeige. Das kann dann auch dabei helfen, Verständnis zu stärken.

Und wenn es doch mal eine Situation gibt, in der ich merke, ich brodel innerlich und es bricht gleich aus mir raus, dann entferne ich mich sachlich und geordnet aus der Situation. Das Gefühl kann ich ihm dann später auch noch konstruktiv und ruhig mitteilen, wenn ich mich abgreagiert habe.

Ich glaube, so werde ich am besten meinen und seinen Bedürfnissen gleichermaßen gerecht. Hoffe ich.

Danke nochmal an alle! Es hat mir wirklich viel Perspektive gegeben!